12 Wochen Auszeit liegen hinter uns, 12 Wochen in denen wir uns mit unserem selbstgebauten Camper aufgemacht haben, um den Balkan zu erkunden. 12 Länder, 12.000 Kilometer.
Neben atemberaubenden Bergen, kühlen Wasserfällen, sonnigen Stränden und vielen besonderen und lehrreichen Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen, sind in dieser Zeit einige Erkenntnisse in uns gereift.
12 Wochen Auszeit sind einfach zu kurz
Das ist zunächst einmal eine recht banale Erkenntnis: 12 Wochen Auszeit, um zu reisen, sind einfach zu kurz. Bereits nach der Hälfte fühlten wir uns gehetzt. Zu viel wollten wir noch sehen, zu viel erleben, als dass wir an einem Ort, der uns gefallen hat, lange bleiben konnten. Die Umgebung aufsaugen, die Natur genießen, flüchtige Begegnungen festigen und aus ihnen eigene Lehren ziehen – all das funktioniert in einer solchen Zeitspanne nicht.
Natürlich, mag man nun sagen: 12 Wochen, knapp drei Monate, sind eine lange Zeit und besser als nichts. Vor allem im Vergleich zu den durchschnittlich zwei bis drei Wochen Urlaub, die der Ottonormal-Arbeitnehmer sich am Stück so gönnt. Absolut. Das stimmt. Aber letztendlich ist es eben doch nicht mehr als ein ausgedehnter Urlaub. Dem einen oder der anderen mag das reichen. Uns allerdings nicht.
Denn uns geht es nicht darum, Urlaub zu machen und einfach mal die Seele baumeln zu lassen. Wir wollen das Leben leben. Jeden Tag aufs Neue. Tiefgreifende Erfahrungen machen, spannende Dinge erleben, uns den Herausforderungen stellen, die ein Leben on the Road eben so mit sich bringt, Menschen kennenlernen – wirklich kennenlernen – bereichernde Erlebnisse sammeln, die uns weiterbringen. In unserer persönlichen Entwicklung, als Mensch und die uns näher zu uns selbst führen.
Gastfreundschaft steht über Profitgier
Von diesen Erfahrungen haben wir einige gemacht. Die entscheidendsten hängen wohl mit den Menschen zusammen, die wir getroffen haben. Wer hätte das gedacht. Fuhren wir doch ohne große Erwartungen los. Vielmehr mit der Gewissheit, dass wir zwischendurch ausgeraubt werden könnten, dass uns des Nachts jemand mittels eines Gasanschlages vergiften und uns um unser Hab und Gut bringen könnte, dass unser rollendes Zuhause geklaut wird und wir nur mit der Kleidung, die wir am Leib tragen, irgendwo im Nirgendwo stehen.
Immerhin haben wir im Vorfeld darüber viel gelesen. Nicht umsonst haben wir uns eine zusätzliche Lenkradsperre zugelegt und eine Vorrichtung für ein Vorhängeschloss an unserem Camper angebracht. Wie oft wir das genutzt haben? Nie. Die meiste Zeit haben wir noch nicht einmal unsere Schiebetür abgeschlossen, wenn wir zu Bett gegangen sind.
Warum? Ganz einfach. Wir haben uns zu jeder Zeit absolut sicher gefühlt. Die Gastfreundschaft, die lächelnden Gesichter, die winkenden Hände der Einheimischen, an denen wir vorübergefahren sind, die tiefgründigen Gespräche, die wir mit uns völlig unbekannten Menschen geführt haben. All das hat uns dazu veranlasst, unsere Sicherheitsbedenken über Bord zu werfen. Und womit? Mit Recht.
Ich mag hier nicht verhehlen, dass wir vielleicht einfach nur Glück hatten oder eben nicht zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Aber wir haben die ganz persönliche Erfahrung gemacht, dass die Menschen froh sind, wenn sie uns ihr Land zeigen und uns die schönsten Plätze empfehlen können. Sicher, wir haben touristische Orte gemieden. Aber genau deshalb haben wir so viele Menschen getroffen, die niemandem etwas Böses wollen und denen Gastfreundschaft über Profitgiert geht.
Was haben wir vermisst? Nichts
Das bringt mich unweigerlich zur nächsten Erkenntnis: Was haben wir vermisst in den drei Monaten, in denen wir zu zweit auf rund sieben Quadratmetern durch aller Herren Länder gezogen sind? Nichts. Absolut. Überhaupt. Gar. Nichts.
„Freut ihr euch darauf, nach Hause zu kommen?“, klingt es uns in den Ohren. Die glasklare Antwort ist: „Nein“. Wir sind zu Hause. Überall und jederzeit. Wir brauchen nicht mehr als diese sieben Quadratmeter fahrenden Untersatzes. Wenn es uns an einem Fleckchen Erde gefällt, bleiben wir. Wenn es uns nicht gefällt, fahren wir weiter.
Wir haben weder eine Satellitenschüssel auf dem Dach, noch haben wir auch nur ein einziges Mal unseren Netflix-Account genutzt. Nicht einmal Spotify oder YouTube haben wir bemüht, um für eine angemessene musikalische Untermalung zu sorgen. Wozu auch? Die Natur hat uns unterhalten. Am Tag konnten wir uns satt sehen an klarem Wasser, das sich seinen Weg über die Steine des Flussbettes bahnt oder an saftig grünen Wiesen und Wäldern, an Tieren, die man in Deutschland nicht sieht (ja, es waren auch wilde Bären darunter), an Schäfern, die ihre Herde über Straßen und Felder treiben, am prasselnden Lagerfeuer oder am See, in dessen glatter Oberfläche sich der Himmel spiegelt.
Am Abend haben wir gelesen, uns unterhalten – miteinander oder mit den Menschen, die wir getroffen haben – und vor allem haben wir der Natur zugehört: Zirpende Grillen und Zikaden, quakende Frösche, rauschende Flüsse, die auf einmal, wenn es dunkel wird, scheinbar einen Heidenlärm verursachen, den man am Tag nicht wahrnimmt. All das war so viel besser und so viel unterhaltsamer als jede Netflix-Serie (sorry Netflix, wir werden im Winter wieder auf dich zurückkommen).
Was wir brauchen? Nicht viel
Genau hier knüpft der nächste Punkt an: Was brauchen wir eigentlich im Leben? Man stellt sich das ja so schön vor. Was will ich mit 30 erreicht haben? Auto, Haus mit Garten, Villa mit Pool, 3 Urlaube im Jahr, geilen Typen an der Seite.
Nun ja, was soll ich sagen. Die Sache mit dem geilen Typen habe ich erfolgreich umgesetzt. Und den Rest? Den Rest brauch ich nicht – brauchen wir nicht. Denn der „geile Typ“ hat da genau die gleiche Einstellung. Erst heute haben wir wieder darüber gesprochen, was wir denn brauchen, was wir nicht mit uns tragen können.
Die Antwort: Nichts. Wir brauchen kein großes Haus. Wir brauchen ein Dach über dem Kopf. Das haben wir. Wir brauchen kein schickes Auto mit Sportausstattung. Wir haben einen Camper. Unseren Campervan, den wir mit unseren eigenen Händen und im Schweiße unseres Angesichts (nein, das ist nicht übertrieben) ausgebaut haben. Ist er perfekt? Bei Weitem nicht. Aber wir haben ihn geschaffen. Die Fenster sind dicht, es befindet sich ein Bett darin, fließend Wasser und Strom. Wir brauchen also keine Villa mit Pool. Wir haben ein rollendes Zuhause, das wir parken können wo auch immer wir wollen. Wir brauchen keinen Reichtum. Wir brauchen Freiheit. Daran arbeiten wir. Denn – und da ist das System, in das wir hineingeboren wurden einfach knallhart – alles hat seinen Preis, auch die Freiheit.
Menschen werden auch ohne die vermeintlich so wichtigen Annehmlichkeiten, für die wir tagtäglich arbeiten, glücklich alt. Auch das durften wir in den vergangenen Wochen feststellen. Ein schönes Haus, Luxus – was man landläufig eben darunter versteht – und Reichtum – im Sinne von viel Geld – sind uns nicht wichtig. Was zählt ist die Zeit und was wir aus ihr machen.
Wir wollen reich sein – aber müssen nicht viel Geld haben
Damit einher geht die nächste Erkenntnis. Wir wollen reich sein – aber müssen nicht viel Geld haben. Klingt komisch? Mag sein.
Diese Erkenntnis kam mir bereits als ich ein halbes Jahr auf Bali verbracht habe. Ich habe viele Kinder gesehen, die mit einem Ball, einem Kreisel oder nur einem Stück Holz auf der Straße, in Pfützen oder im Feld neben der Hütte gespielt haben. Ohne Spielekonsole, ohne den neusten heißen Scheiß, den die Spieleindustrie zu bieten hat.
Und auch auf unserer jetzigen Reise traf mich ein Gedanke, den ich hatte, als wir an Barracken vorbeigefahren sind: Vielleicht sind diese Menschen glücklich, vielleicht glücklicher als wir. Und es sei gesagt: Nein, ich möchte nicht unter einem Wellblechdach leben, das bei dem kleinsten Lüftchen weggeweht wird.
Aber neben heruntergekommenen Absteigen, dem Müll, der sich neben der Straße stapelt und dem vermeintlichen Nichts, das diese Menschen besitzen, habe ich noch etwas gesehen: Ihr Lächeln, ihr Miteinander, ihre Herzlichkeit. Da mag sich der ein oder andere luxuszwirntragende Mensch fragen, wie das sein kann. Ich habe keine Antwort darauf. Denn das ist augenscheinlich das, was wir als „arm“ bezeichnen würden.
Und doch sah ich Freude, strahlende Augen, eine innere Ruhe und eine Herzlichkeit im Umgang, die es bei uns einfach viel zu selten gibt. Und unweigerlich habe ich mir die Frage gestellt: Was ist eigentlich Reichtum? Ich habe sie für mich, wir haben sie für uns, beantwortet und können nur so viel sagen: Geld und das Luxuspenthaus sind es nicht.
Wir wollen nicht unsere „Batterien aufladen“ müssen
Vielmehr ist es die Freiheit, so leben zu können, wie man es für sich ganz persönlich für richtig hält und zwar ohne die berühmten Batterien immer wieder aufladen zu müssen. Das ist ja auch so etwas, was man überall hört – insbesondere wenn man aus dem Urlaub zurückkehrt: „Und, habt ihr die Batterien wieder aufgeladen?“.
Ständig lese ich auch auf LinkedIn, Xing, in Blogs oder auf diversen anderen Seiten, dass man seine „Batterien aufladen“ muss. Allmontaglich stolpere ich über Posts, die sich darüber auslassen, dass „schon wieder Montag ist“. Äquivalent dazu die hochjubelnden Freitagsposts „Juhu, endlich Wochenende“, „TGIF“, „endlich auftanken“. Hingearbeitet wird auf das nächste Wochenende, an dem man sich mal wieder entspannen, mit Freunden etwas unternehmen kann oder eben etwas macht, wofür man in der Arbeitswoche keine Kapazitäten hatte, weil die Zeit zu knapp oder der Energie-Akku eben leer ist.
Doch wieso ist es nötig, besagte Batterien aufzuladen? Wenn ich die Batterien wieder aufladen müsste, würde das ja bedeuten, dass ich alltäglich etwas tue, was mich auslaugt. Das hieße ja, man würde einem Job nachgehen, der dafür sorgt, dass die Ladespannung stetig abnimmt, dass wir leer gesaugt werden, sodass wir uns am Wochenende oder im Urlaub wieder volltanken müssen.
Ist das denn der Sinn unseres Lebens? Akku leer und deshalb schnell an die geistige Stromtankstelle, die für uns die 20-30 Urlaubstage im Jahr sind? Sollte das das Leben sein? Will ich etwas tun, das mich leer saugt, was mir die Kraft raubt, bis ich auf Stromsparmodus und Reserve umstelle?
Offensichtlich ist das genau das, was die meisten Menschen in unserer Gesellschaft machen, sooft wie man davon hört oder liest. Klar, ich bin auch in meiner Bubble, offensichtlich in einer, in der diese Begriffe oft fallen. Und vielleicht ist das eben eine Blase, die man zum Platzen bringen sollte – für sich ganz persönlich.
Wir arbeiten und dann sind wir tot
Den ultimativen Ladebooster stellt ja der Ruhestand dar. Wenn die Kapazitäten naturgemäß gegen Stromsparmodus gehen, ist uns systemseitig eine Auszeit bis ans Lebensende vergönnt, die wir mit Annehmlichkeiten füllen können, wie es uns beliebt.
Wir warten auf das Wochenende, wir warten auf den Urlaub und wir warten auf den Ruhestand, in dem wir dann all die Dinge tun können, die wir schon immer angehen wollten. Wir gehen in die Schule, studieren, wollen die Karriereleiter emporklettern, viel Geld verdienen, das wir dann später so richtig schön verprassen können. Wir arbeiten für die Rente.
Aber seien wir mal ehrlich: eine gesetzliche Rente werden wir – diejenigen, die unter 40 sind – sowieso nicht mehr bekommen. Falls doch, dann vielleicht so viel, dass es gerade so reicht, um zu überleben. Zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Klar: Selbst vorsorgen ist die Devise, damit wir dann mit arthritischen Fingern das Geld zählen können, das wir maximal noch für Gehhilfen, Stützstrümpfe und Blutdrucktabletten ausgeben können, statt für das Leben, das wir nie führen konnten.
Wir werden wohl arbeiten, bis wir tot umfallen. Also sollten wir so leben und arbeiten, dass wir einfach jederzeit glücklich tot umfallen könnten, mit den Erlebnissen und Erfahrungen im Rücken, die wir schon immer machen wollten, die uns stärken, uns reifen lassen und uns persönlich weiterbringen – mit vollem Akku. Denn sonst ist es doch so: Wir arbeiten und dann sind wir tot.
Leben funktioniert anders
Eins auf jeden Fall ist uns klar geworden: Leben – so richtig leben – funktioniert anders. Es geht nicht darum, Versicherungen abzuschließen, die einem in unserer Gesellschaft dringend empfohlen werden. Es geht nicht darum, Rechnungen zu zahlen, für Dinge, die wir uns kaufen, obwohl wir sie nicht zwingend benötigen. Es geht nicht darum, in einem System zu existieren, in dem wir uns gefangen fühlen. Leben funktioniert anders. Wie? Wir wissen es noch nicht. Aber die letzten 12 Wochen haben uns näher an die Antwort gebracht. Wir werden es herausfinden.